Cannabis als Medizin

Dr. Harald Terpe (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Die Bundesregierung hat sich viel Zeit gelassen, um endlich zu erkennen, dass die Bedürfnisse von Patientinnen und Patienten, die auf Cannabis als Medizin angewiesen sind, nicht länger ignoriert werden können. Ich setze mich bereits seit fast zehn Jahren dafür ein, dass der Zugang zu Cannabis als Medizin für betroffene Patientinnen und Patienten auch in Deutschland endlich ermöglicht wird.

Denn Fakt ist: Deutschland hinkt mächtig hinterher und hat schwerkranken Patientinnen und Patienten jahrelang dicke Steine in den Weg gelegt. In mehreren US-Bundesstaaten, in Kanada, den Niederlanden und Israel ist die medizinische Verwendung von Cannabis längst möglich. In anderen Ländern wie Spanien oder Belgien müssen Patientinnen und Patienten, die auf Cannabis als Medizin angewiesen sind, keine Strafverfolgung fürchten.

Patientinnen und Patienten, die aus medizinischen Gründen auf Cannabis angewiesen sind, leiden unter schweren chronischen Erkrankungen, die teilweise tödlich verlaufen. Standardtherapien haben bei betroffenen Patientinnen und Patienten entweder versagt oder gehen mit so starken Nebenwirkungen einher, dass der gesundheitliche Zustand verschlechtert wird. Patientinnen und Patienten, denen Cannabis hilft, wurden erfolglos therapiert und finden Linderung ihrer Symptome nur in der Behandlung mit cannabishaltigen Medikamenten oder getrockneten Cannabisblüten. Die Cannabistherapie bedeutet bessere Lebensqualität.

Schon aus moralischen Gründen darf schwer erkrankten Patientinnen und Patienten ohne Behandlungsalternativen eine adäquate Therapie mit Cannabis nicht verweigert werden. Das wird auch durch mehrere Gerichtsbeschlüsse deutlich. Darüber hinaus stellt sich jedoch auch die Frage der sozialen und gesellschaftlichen Verantwortung. Denn betroffenen Patientinnen und Patienten steht, bis auf wenige Ausnahmen, keine Kosten­erstattung durch die gesetzlichen Krankenkassen zu. Cannabis-Patientinnen und -Patienten leiden nicht nur an ihrer Erkrankung, sondern werden im Falle der mühsam erwirkten Ausnahmegenehmigung durch das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte mit den enormen Behandlungskosten von bis zu 1 500 Euro im Monat konfrontiert. Das übersteigt in vielen Fällen die finanziellen Möglichkeiten der häufig arbeitsunfähigen Patientinnen und Patienten. Wer die hohen Kosten nicht selbst aufbringen kann, um Medizinalhanf in der Apotheke zu beziehen, sieht sich gezwungen, das günstigere, aber unkontrollierte und verunreinigte Cannabis vom Schwarzmarkt zu beziehen oder Cannabis selbst anzubauen. Die Folge sind Strafverfahren, die nur unter der Auflage eingestellt werden, zukünftig kein Cannabis mehr zu konsumieren. Da viele Patientinnen und Patienten auf eine regelmäßige Einnahme von Cannabis angewiesen sind, werden sie zudem als Wiederholungstäterinnen und -täter oder wegen des Besitzes nicht geringer Mengen zu empfindlichen Geld- oder Haftstrafen verurteilt. Damit werden ausgerechnet jene Menschen der Strafverfolgung ausgesetzt, die aufgrund ihrer teilweise schweren Erkrankung ohnehin körperlich und seelisch erheblich belastet sind.

Darum habe ich bereits 2007 gefordert, dass die strafrechtliche Verfolgung von Menschen, die Cannabis aus medizinischen Gründen verwenden, besitzen oder anbauen, beendet wird. Des Weiteren habe ich mich dafür eingesetzt, dass arzneimittelrechtlich zugelassene Cannabisextrakte wie Dronabinol verschreibungsfähig werden. Die damalige Regierungskoalition von Union und SPD ignorierte die Bedürfnisse der Patientinnen und Patienten und sah keinen Handlungsbedarf. 2011 forderten wir Grünen die Bundesregierung erneut auf, den straffreien Zugang zu Cannabis als Medizin für Patientinnen und Patienten, die Cannabis auf ärztliche Empfehlung hin nutzen, zu ermöglichen. Zudem sollte die zulassungsüberschreitende Verschreibung, der Off-Label-Use, von bereits zugelassenen Fertigarzneimitteln auf der Basis von Cannabis erleichtert werden und dadurch eine Kostenübernahme durch die Krankenkassen erfolgen. Auch damals lehnte die Regierung von Union und FDP unseren Antrag ab, obwohl sich auch zu jenem Zeitpunkt die Situation von betroffenen Patientinnen und Patienten keineswegs gebessert hatte.

Experten in der Anhörung des Gesundheitsausschusses haben sich schon vor vielen Jahren für eine Möglichkeit zur medizinischen Verwendung von Cannabis ausgesprochen. Sie haben auch nicht die Wirksamkeit von Cannabis für bestimmte Indikationen in Abrede gestellt. Und sie haben ein durch den medizinischen Cannabisgebrauch resultierendes Gesundheitsrisiko einer Abhängigkeitsentwicklung für vernachlässigbar erklärt.

Dass die Bundesregierung jetzt ihre Meinung geändert hat und einen entsprechenden Gesetzentwurf vorgelegt hat, zeigt, dass sich die Bundesregierung dem langjährigen Einsatz betroffener Patientinnen und Patienten für ihre Belange, Gerichtsurteilen zu Cannabis als Medizin und dem zunehmendem politischen Druck auch von uns Grünen nicht länger entziehen und entgegenstellen kann.

Die Bundesregierung geht das Thema medizinisches Cannabis jedoch immer noch mit Scheuklappen an. Ihr Vorschlag verbessert die Behandlungssituation von Betroffenen nur minimal. Die Zahl der beantragten Ausnahmegenehmigungen zeigt: Immer mehr Patientinnen und Patienten sind auf Cannabis als Medizin angewiesen, um ihre Symptome zu lindern. Die Zahl der genehmigten Anträge ist von 2011 mit 38 ausgestellten Ausnahmegenehmigungen auf aktuelle 779 Ausnahmegenehmigungen gestiegen.

Cannabishaltige Medikamente und getrocknete Cannabisblüten sollen aber weiterhin nur dann verschrieben werden dürfen, wenn die Betroffenen alle anderen Behandlungsmöglichkeiten erfolglos und oft mit schwerwiegenden Nebenwirkungen ausprobiert haben. Zudem soll die Krankenkasse erst dann zahlen, wenn sich die Betroffenen für eine Begleiterhebung zur Verfügung stellen. Die Bundesregierung legt damit Schwerkranken auf der Suche nach Hilfe weiterhin dicke Steine in den Weg.

Die verpflichtende Begleiterhebung ist eine Farce. Das wird auch in der Antwort der Bundesregierung auf unsere Kleine Anfrage „Versorgung mit Cannabis als Medizin“ deutlich. Denn die Bundesregierung geht selbst davon aus, dass die Ergebnisse der Begleiterhebung kaum Aussagekraft haben werden. Dass Patientinnen und Patienten dennoch daran teilnehmen müssen, um ihre Therapiekosten erstattet zu bekommen, grenzt an Nötigung. Die Bindung der Kostenerstattung an die Teilnahme an der Begleiterhebung ist ein Novum, das den betroffenen Patientinnen und Patienten die Selbstbestimmung nimmt. Denn indirekt Zwang auf schwerkranke Patientinnen und Patienten auszuüben, ist schäbig, als ob es nicht auch freiwillige Lösungen gäbe. Anstatt fragwürdiger und erzwungener Begleiterhebungen sollte die Bundesregierung lieber solide Forschungsvorhaben zur Wirksamkeit von Cannabis als Medizin fördern.

Wissenschaftliche Untersuchungen belegen bereits heute, dass Cannabis bei schweren Erkrankungen wie HIV, multipler Sklerose, chronischen Schmerzen, Epilepsie oder Krebs Linderung bewirken kann. So ist ein therapeutischer Effekt im Hinblick auf Übelkeit, Erbrechen, Appetitlosigkeit oder Angstzustände bei Tumorpatientinnen und -patienten belegt. Erkenntnisse zur Wirksamkeit gibt es auch bei der Spastik bei Multiple-Sklerose-Patientinnen und -Patienten, erhöhtem Augeninnendruck, Tourette-Syndrom oder bei starken Schmerzen unterschiedlichster Ursachen.

Grundsätzlich ist die Erforschung von Cannabis als Medizin zu begrüßen. Denn tatsächlich ist die Erforschung von Cannabis als Medizin noch nicht abgeschlossen, auch weil sie jahrelang durch restriktive Gesetze behindert wurde. Die fehlenden Daten bedeuten jedoch nicht, dass Cannabis nicht wirkt. Nicht nur Patientinnen und Patienten, sondern auch Ärztinnen und Ärzte haben gute Erfahrungen mit dem Einsatz von medizinischem Cannabis gemacht.

Wie dringend notwendig diese Forschungsförderung ist, zeigt sich auch an einem anderen Aspekt: Die gesetzlichen Krankenkassen haben bereits angezweifelt, ob sie die Kosten für Medizinalhanf erstatten müssen, da die Wirksamkeit dieser Therapie nicht in jedem Fall bewiesen ist. Die Versorgung mit medizinischem Cannabis steht damit schon jetzt auf wackligen Beinen. Die Prüfung der Anträge auf Kostenerstattung bei betroffenen Patientinnen und Patienten soll der Medizinische Dienst der Krankenkassen vornehmen, der bislang noch keine Erfahrung mit dem Einsatz von Cannabis als Medizin und einer Nutzen-Schaden-Abwägung im Vergleich zu anerkannten medizinischen Verfahren hat. Es wird sich zeigen, wie restriktiv der Medizinische Dienst der Krankenkassen die Regelungen im Gesetzentwurf auslegen wird, insbesondere wenn es um die Fragen geht, was eine schwerwiegende Erkrankung ist und wann ein Mensch als erfolglos therapiert gilt. Im Zweifelsfall müssten betroffene Patientinnen und Patienten weiter die hohen Kosten selbst aufbringen oder vor Gericht ihr Recht erstreiten. Das ist für schwerkranke Menschen unzumutbar. Wir werben sehr dafür, dass für betroffene Patientinnen und Patienten endlich eine Regelung geschaffen wird, die eine Kostenerstattung durch die gesetzlichen Krankenversicherungen verbindlich macht und garantiert.

Diesbezüglich hat auch das Bundesverwaltungsgericht jüngst entschieden, dass der Eigenanbau von Cannabis als Medizin für betroffene Patientinnen und Patienten, die an einer schweren Erkrankung leiden und denen zur Behandlung der Krankheit keine gleich wirksame und erschwingliche Therapiealternative zur Verfügung steht, erlaubt ist. Die Leipziger Richter begründeten in ihrem Urteil, dass in solchen Fällen der Eigenanbau betäubungsmittelrechtlich im öffentlichen Interesse liegt. Wenn es keine anderweitigen Versagensgründe gibt, sei die Erlaubnis zwingend. Denn erkrankte Menschen könnten sich hier auf ihr Recht auf körperliche Unversehrtheit berufen. Auch wenn die Bundesregierung die Möglichkeit des Eigenanbaus in ihrem Gesetzentwurf aus ordnungs- und sicherheitspolitischen Gründen ausschließt, kann sie das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts nicht ignorieren. Schwerkranke Patientinnen und Patienten können nicht länger warten, bis der Gesetzentwurf beschlossen wurde und vielleicht erst in ein paar Jahren genug Medizinalhanf zur Verfügung steht, der aus der Apotheke bezogen werden kann. Denn schon heute gibt es Lieferengpässe, sodass die Apotheken die Versorgung mit Cannabis als Medizin nicht immer gewährleisten können. Mindestens bis dahin muss auch der Eigenanbau genehmigt werden. Und hier würde die Bundesregierung endlich gut daran tun, die Strafverfolgung von Inhabern einer Sondererlaubnis für Eigenanbau von Cannabis zu beenden. Die Strafverfolgung von Menschen, die auf Cannabis als Medizin angewiesen sind, ist skandalös und inhuman.