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Dr. Harald Terpe (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Offenbar muss leider immer erst etwas passieren, damit sich etwas zum Positiven verändert. Der Skandal um die mangelhaften Brustimplantate der französischen Firma PIP hat deutlich gemacht, dass das Überwachungssystem für Medizinprodukte vermutlich in ganz Europa nicht so funktioniert, wie es die Patientinnen und Patienten erwarten dürfen. Neben erheblicher krimineller Energie ist auch eine monate- wenn nicht jahrelange Gedankenlosigkeit und Verantwortungsschwäche bei vielen Behörden offenbar geworden. Spätestens durch das Marktverbot für PIP-Implantate April 2010 war den deutschen Länderbehörden bekannt, dass mit den französischen Implantaten etwas nicht stimmt. Aber erst im Dezember 2011 haben sie angefangen, sich zum Beispiel einen Überblick darüber zu verschaffen, welchen Patientinnen und Patienten eigentlich ein solches Implantat eingesetzt wurde.
Natürlich ist es richtig, ausgehend von diesen Erfahrungen, die Marktüberwachung und die Kontrollen zu verbessern und den Benannten Stellen zum Beispiel die Möglichkeit zu geben, unangemeldet bei den Herstellern von Implantaten Prüfungen durchzuführen. Auf diese Weise lassen sich sicher Schlampereien oder kriminelles Treiben wirksamer verhindern. Aber werden wir damit dem Problem gerecht? Wir meinen: Nein. Die Probleme bei den Medizinprodukten sind nur zu einem Teil mangelnder Kontrolle geschuldet. Wir müssen leider feststellen: In dem ganzen System von Überwachung und Zulassung von Medizinprodukten und speziell von Implantaten steckt der Wurm drin.
Ich will Ihnen das an ein paar Beispielen illustrieren. Vor wenigen Tagen war in dem Fachjournal „Lancet“ ein Artikel über metallene Hüftimplantate zu lesen. Die Forscher haben in einer mehrjährigen Studie unter Einbeziehung von fast 400 000 Hüftoperationen herausgefunden, dass es bei der Verwendung dieser Prothesen vermehrt zu erheblichen Komplikationen bei den betroffenen Patientinnen und Patienten gekommen ist. Berichtet werden Zerstörungen des Knochens, Schädigungen des umliegenden Gewebes und das Versagen des Implantates. Gleichzeitig zeigten die wenigen überhaupt vorhandenen Studien, dass diese Hüftendoprothesen überhaupt keinen Vorteil gegenüber herkömmlichen Produkten haben. Im August 2010 musste ein Hersteller sein Produkt aufgrund erhöhter Revisionsraten vom Markt nehmen. Die Probleme waren dem Hersteller allerdings schon seit Jahren bekannt.
Ohnehin sind die Revisionsraten bei Hüft-, aber auch bei Endoprothesen erheblich. Neuere Untersuchungen auf der Grundlage von GKV-Routinedaten zeigen, dass 3,45 Prozent aller Hüftendoprothesen innerhalb von zwei Jahren nach der Implantation ausgetauscht werden mussten. Ursächlich waren in fast 70 Prozent der Fälle mechanische Komplikationen. Unter den 390 000 im Jahr 2010 eingebauten Hüft- oder Knieendoprothesen waren immerhin 37 000 Wechseloperationen.
Ein weiteres Beispiel: Im Jahre 2007 wurde in den USA eine große Studie veröffentlicht, die zeigte, dass der Nutzen von Gefäßprothesen, so genannten Stents, bei Erkrankungen der Herzkranzgefäße gegenüber der alleinigen medikamentösen Therapie zumindest in bestimmten Fällen – vorsichtig ausgedrückt – fragwürdig ist. Die Patientinnen und Patienten in der Studie hatten durch die Verwendung der Gefäßprothese überhaupt keinen Vorteil, weder war die Überlebensrate höher noch konnte die Herzinfarktrate gesenkt werden. Eine ähnliche Studie aus dem Jahr 2006, in der es ebenso um den Einsatz von Implantaten bei Herzerkrankungen ging, konkret um so genannte Ballonkatheter, konnte ebenfalls keinen Vorteil gegenüber der medikamentösen Therapie aufzeigen. Auch dieses Beispiel zeigt, dass wir uns zu wenig damit beschäftigen, welchen Nutzen bestimmte implantierbare Medizinprodukte eigentlich haben.
Und ich will Ihnen noch ein drittes Beispiel nennen. Seit einigen Jahren wird zur Behandlung von Schmerzen infolge einer teilweisen oder vollständigen Wirbelfraktur sowie zur Stabilisierung der Wirbel Zement in die betroffene Körperregion gespritzt. Neuere Studien zeigen jedoch, dass bei diesem Vertebroplastie genannten Verfahren das Risiko von Frakturen in benachbarten Wirbeln ansteigt. Andere Studien zeigen, dass die schmerzlindernde Wirkung dieser Methode nicht größer ist als bei Verwendung eines Placebos.
Dieses alles legt den Schluss nahe: Mit schärferer Überwachung und Kontrolle allein, wie es sich offenbar Bundesregierung und Medizinproduktehersteller gemeinsam auf die Fahne geschrieben haben, kommen wir da überhaupt nicht weiter. Es darf nicht länger sein, dass hochinvasive Herzkatheter genauso behandelt werden wie Kondome oder gar Stützstrümpfe.
Prothesen, Herzkatheter und andere implantierbare Medizinprodukte sind mit ähnlichen gesundheitlichen Risiken verbunden wie Arzneimittel. Wir brauchen also ein vergleichbar gestaltetes Zulassungsverfahren wie bei den Arzneimitteln.
Deshalb fordern wir, implantierbare Medizinprodukte schon vor dem Marktzugang genauer unter die Lupe zu nehmen und anstelle der CE-Kennzeichnung für diese Produkte eine zentrale Zulassung beispielsweise durch das BfArM oder die Europäische Arzneimittelbehörde einzuführen.
Die derzeit von den Herstellern bei der Zulassung der Implantate vorzulegenden Studien sind überhaupt nicht ausreichend, um Auskunft über Nutzen, therapeutische Wirksamkeit und Risiken zu geben. Wir brauchen daher auch höhere Anforderungen an die Studien, die die Hersteller bei der Zulassung vorlegen müssen. Das betrifft beispielsweise die Dauer der Studien und die Anzahl der einzubeziehenden Patientinnen und Patienten. Soweit dies im Einzelfall möglich und sinnvoll ist, müssen auch randomisierte Studien zur Voraussetzung bei der Zulassung gemacht werden.
Nötig ist zudem ein verbindliches Register für alle Implantate. Auch hier kann ich nicht erkennen, warum sich die Bundesregierung so vehement dagegen sträubt, ein verbindliches Register einzuführen. Die Vorteile eines solchen Registers liegen auf der Hand. In Schweden konnte die Revisionsrate nach Einführung eines solchen Registers nahezu halbiert werden. Durch eine langfristige Marktbeobachtung kann schnell erkannt werden, wenn sich bei einem Produkt die Komplikationen häufen. In Verbindung mit einem wirksameren Vigilanzsystem für Medizinprodukte kann die zuständige Medizinproduktebehörde dann schnell die nötigen Konsequenzen ziehen und das Produkt vom Markt nehmen.
In unserem Antrag sind noch weitere Vorschläge enthalten, auf die ich hier nicht vertiefend eingehen möchte. Wir brauchen beispielsweise auch eine bessere Nutzenbewertung für neue Untersuchungs- und Behandlungsmethoden. Es kann nicht sein, dass Gelder der solidarischen Krankenversicherung für fragwürdige Behandlungsmethoden ausgegeben werden.
Wir müssen zudem gewährleisten, dass Patientinnen und Patienten vor der Implantation einer Prothese umfassend über die Risiken aufgeklärt werden.
Die Bundesregierung und ganz konkret die Koalitionsfraktionen müssen nun die Frage beantworten, ob sie bereit sind, Patientinnen und Patienten durch eine umfassende Reform der EU-Medizinprodukterichtlinien wirksamer vor gesundheitlichen Risiken insbesondere durch implantierbare Medizinprodukte zu schützen. Wenn sie wie angekündigt nur ein bisschen an den Kontroll- und Überwachungsverfahren herumdoktern, setzen sie sich dem Vorwurf aus, die Interessen der Medizinproduktehersteller über die der Patientinnen und Patienten zu stellen.