23.09.2011: Rede zum GKV-Versorgungsstrukturgesetz (1. Lesung)

Vizepräsident Eduard Oswald:

Nächster Redner in unserer Debatte ist für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen unser Kollege Dr. Harald Terpe. Bitte schön, Kollege Dr. Terpe.

Dr. Harald Terpe (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wer nach den bisherigen enttäuschenden Gesundheitsgesetzen der schwarz-gelben Koalition einen gesundheitspolitischen Aufbruch erwartet hat, der wird auch diesmal enttäuscht: Trippelschrittchen in die Zukunft und weit ausholende Schritte in die Vergangenheit.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Jens Spahn [CDU/CSU]: Geht es auch mal konkret?)

Nun will ich nicht behaupten, dass der Gesetzentwurf überhaupt keine für die Versorgung sinnvollen Einzelregelungen enthält. Es ist manches darunter, wofür Sie unsere konstruktive Unterstützung haben.

(Heinz Lanfermann [FDP]: Das ist schon mal ein Ansatz! – Weiterer Zuruf von der FDP: Das hören wir gern!)

Ich nenne beispielsweise die Überarbeitung der ärztlichen Bedarfsplanung mit regionalem Bezug, die Lockerung der Residenzpflicht, die Datengrundlage für die Versorgungsforschung und nach meiner Meinung – trotz aller Unbestimmtheit – im Grundsatz auch die Schaffung der spezialärztlichen Versorgung.

(Jens Spahn [CDU/CSU]: Na, guck!)

Aber gemessen an dem, was zur Verbesserung der Versorgung eigentlich getan werden müsste, ist dieser Gesetzentwurf ein Flop.

Wir wissen, dass durch den demografischen Wandel die Zahl der chronisch und mehrfach erkrankten Patientinnen und Patienten zunehmen wird, vor allem in ländlichen Räumen. Deshalb wird sich die Art der Versorgung ohnehin ändern müssen, und zwar weg von der rein arztzentrierten Behandlung hin zu einer ganzheitlichen Versorgung der Patientinnen und Patienten.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

Dazu liegen zahlreiche Studien vor. Beispielsweise hat der Sachverständigenrat zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen wiederholt darauf hingewiesen, dass schon heute ein erheblicher Verbesserungsbedarf in der gesundheitlichen Versorgung besteht. Dabei geht es nicht nur um die erlebte Versorgungsqualität – ohne Frage ein wichtiger Punkt –, sondern es geht auch um tiefgreifende Strukturveränderungen. Es geht um eine Stärkung der integrierten Versorgung, damit endlich die überkommene Grenze zwischen dem niedergelassenen Bereich und den Krankenhäusern überwunden wird. Es geht um eine andere Aufgabenverteilung, um bessere Zusammenarbeit zwischen den Gesundheitsberufen und um eine Stärkung der Primärversorgung. Meine These lautet, dass sektoren- und professionenübergreifende Versorgungsstrukturen die besten Chancen für eine nachhaltig gute Versorgungsqualität bieten.

Der Sachverständigenrat hat auch wiederholt darauf hingewiesen, dass die Anreize in unserem Gesundheitswesen nicht stimmen. Der gesunde Patient lohnt sich für den Arzt überhaupt nicht. Es geht nur noch darum, möglichst viele Leistungen zu erbringen. Das führt zu einer häufig entseelten, nicht am Gesundheitsnutzen der Patientinnen und Patienten orientierten Medizin.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Es tut mir leid: Ich sehe in diesem Gesetzentwurf wenig oder nichts, durch das dieses spezifische Problem auch nur im Ansatz zu lösen wäre.

Stattdessen öffnen Sie die Tür für größtenteils unkonditionierte Honorargeschenke an Ihre vermeintliche Klientel. Ich glaube, es werden mehr Anreize für eine bessere Versorgung, gerade im Primärbereich, gebraucht; gebraucht wird nicht die Belohnung der cleversten Leistungsausweitung. Honorare ja, aber leistungsgerecht und transparent.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Ähnlich verfahren Sie mit dem Gemeinsamen Bundesausschuss. Auch dort stärken Sie die finanziellen Interessen der Leistungserbringer. Künftig wird es noch schwerer sein, Behandlungsmethoden auszuschließen, die uns alle nur Geld kosten, für die Patientinnen und Patienten aber keinen gesundheitlichen Nutzen bringen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Sie müssen sich den Vorwurf gefallen lassen, dass unsolidarische Politik zulasten vieler und zum Nutzen weniger leider Tradition in der FDP hat.

(Widerspruch bei der FDP)

Der Vorgänger im Amt des Gesundheitsministers, Herr Rösler, hat bei der Verabschiedung des GKV-Finanzierungsgesetzes im vergangenen Jahr an dieser Stelle beklagt, dass im Gesundheitswesen reglementiert werde, wer wann welche Leistung bei wem an welchem Ort erbringen dürfe oder eben nicht. Deshalb muss hier gefragt werden: Warum und zu wessen Nutzen reglementieren Sie eigentlich, wer in Deutschland ein Medizinisches Versorgungszentrum gründen darf? Sollen die MVZ in Kliniken gar ausgebremst werden? Warum begrenzen Sie sogar die Wahl der Rechtsform eines solchen Versorgungszentrums? Von den 1 700 MVZ sind ganze 5 MVZ in der Rechtsform einer Aktiengesellschaft. Trotzdem wird Zeit darauf verschwendet, eine Regelung für diese fünf Fälle zu treffen. Ich finde, das ist Placebopolitik.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Zustimmung der Abg. Mechthild Rawert [SPD])

Auch andere Regelungen in diesem Gesetzentwurf sind mehr als dürftig. Sie rühmen sich unter anderem damit, dass Ärztinnen und Ärzte in unterversorgten Regionen künftig keine Angst mehr vor Honorarkürzungen haben müssen. Wir haben dazu in einer Kleinen Anfrage nachgefragt. Daraufhin wurde uns gesagt: Diese gesetzliche Regelung würde im Grunde aktuell 37,3 Ärztinnen und Ärzte betreffen. Wenn man dann noch berücksichtigt, dass Hausärztinnen und Hausärzte in den wirklich unterversorgten Regionen eigentlich ohnehin keine Honorarkürzungen haben, dann betrifft das nur noch 7,3 Ärztinnen und Ärzte.

(Lachen des Abg. Fritz Kuhn [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN])

Es ist also auch eine Regelung, die im Grunde kaum eine Bedeutung hat.

Wir sind dann bei der Frage, die auch schon aufgeworfen worden ist: Wie gehen wir mit der Unterversorgung um – das ist das Wichtigste bei diesem Thema –, aber auch mit der Überversorgung? Dazu ist schon ein Beispiel genannt worden: Wir müssen uns darum kümmern, wie hier in der Stadt die Charlottenburger Kinderärzte nach Neukölln kommen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Dr. Martina Bunge [DIE LINKE]: So ist das!)

Abschließend: Dieser unzulängliche Gesetzentwurf bräuchte im Verfahren eine grundlegende Neuorientierung, nämlich eine Orientierung an den Patientinnen und Patienten und nicht am monetären Nutzen einzelner Leistungserbringer. Dafür hätten Sie jedenfalls unsere volle Unterstützung.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

 Vizepräsident Eduard Oswald:

Vielen Dank, Herr Kollege.